Der Neue. Eine Aufnahme in drei Szenen

Szene 1:


Das Geheime Hauptquartier des Schreibclubs im Inneren des Kufsteiner Festungsberges. Allerlei blinkende Apparaturen, klobige Bildschirme mit wechselnden Anzeigen, ratternde Drucker und Faxgeräte verleihen dem kleinen Raum eine retrofuturistische Anmutung, irgendwo zwischen einem Büro der 80er Jahre, einem Flugzeugcockpit und der Bathöhle. Vor einer riesigen Wand aus flimmernden Monitoren sitzen die diensthabenden Schreibclub-Mitglieder Klippo Kraftwerk und Doma Mischanig. Beide wirken überspannt und gereizt.

 

Kraftwerk (gähnend): Ich hasse diese Nachtdienste!

 

Mischanig: Geht mir genauso. (Er reibt sich die geröteten Augen). Aber es ist nun mal unsere verdammte Pflicht, dem Schreibclub zu dienen. Erinnere dich an unser oberstes Club-Motto: Allzeit bereit.

 

Kraftwerk (ungläubig): Das soll unser Motto sein? Du spinnst ja.

 

Mischanig (kleinlaut): Na ja, kann sein, dass ich da irgendwas durcheinander bringe. Ich glaube, dieses ewige Herumsitzen bekommt mir nicht.

 

Kraftwerk: Wieso sind eigentlich wir schon wieder an der Reihe? Was ist mit den anderen los?

 

Mischanig: Keine Ahnung. (Er deutet auf den Dienstplan). Im Grunde waren diese Woche Astra Kinastra und Buccan Faber zum Bereitschaftsdienst eingeteilt. Aber ich wette, die Kinastra hat sich wieder mal rechtzeitig nach China abgesetzt …

 

Kraftwerk (zischend): Typisch!

 

Mischanig: … und mit Faber ist ja sowieso nichts mehr anzufangen. Seit er sich „Fab Gogh“ nennt, ist er endgültig vom Teamspieler zum Egomanen geworden.

 

Kraftwerk: Fehlt nur noch, dass er sich ein Ohr abschneidet.

 

Mischanig: Das kommt schon noch, verlass dich drauf.

 

Kraftwerk (grantig): Also sind wieder einmal wir die Blöden …

 

Mischanig (achselzuckend): Naja, irgendeiner muss es schließlich machen. (Er zieht ein dickes, in Schweinsleder gebundenes Buch aus der Schreibtischschublade). Laut unserer Satzung sind lückenlose Aufklärungsarbeit, die permanente Verteidigung des literarischen Terrains gegen Außenfeinde aller Art sowie die stete Kontrolle des Mitgliederzuflusses grundlegend für den zukünftigen Erfolg des Unternehmens Schreib---

 

Kraftwerk: Erspar mit unsere Satzung. Du weißt, dass ich sie selbst geschrieben habe. (Er seufzt resignierend). Na gut, dann wollen wir uns mal den Bewerbungen zuwenden.

 

Mischanig (schleppt einen Stoß an ausgedruckten E-Mails, Faxen und anderen Dokumenten herbei und wuchtet ihn vor den beiden auf den Tisch): Das ist in den letzten Stunden hereingekommen. (Er nimmt das oberste Blatt vom Stapel): Hier, eine Bewerberin aus Innsbruck. (Beginnt zu lesen): Sehr geehrter Schreibclub, mit großem Interesse habe ich das Stellenangebot auf Ihrer überaus ansprechenden Homepage gelesen und möchte hiermit---

 

Kraftwerk (unterbricht): Ist ein Foto dabei?

 

Mischanig (reicht es ihm)

 

Kraftwerk (wirft einen kurzen Blick darauf): Zu alt! (Er schiebt das Schreiben in den Reißwolf, der es mit einem kreischenden Geräusch verschlingt).

 

Mischanig (nimmt das nächste Blatt zur Hand und beginnt zu lesen): Sehr verehrte Damen und reizende Herren vom Kufsteiner Schreibclub, seit ich ein kleiner Junge bin, träume ich von der Aufnahme in Ihren erlesenen Club der Cäsaren, wobei ‚erlesen’ natürlich doppeldeutig zu verstehen---

 

Kraftwerk (unterbricht wieder): Zu schleimig!

 

Mischanig (ergreift ein weiteres Blatt): Wie wär’s mit dem hier? Kommt aus Kärnten und hat angeblich schon einiges veröffentlicht. Ein gewisser Peter Handke.

 

Kraftwerk: Zu prominent! Und vor allem zu schlecht.

 

Mischanig: Dann vielleicht diese Dame hier? Eine schreibende Schäferin aus der Bretagne, spezialisiert auf stimmungsvolle Hirtenromantik und bukolische ---

 

Kraftwerk: Zu weit weg!

 

Mischanig: Ich verstehe nicht.

 

Kraftwerk (ungeduldig): Ja glaubst du denn wirklich, dass diese Schafzüchterin jemals zu einem unserer Treffen kommen würde? Denk daran, wie viel Ärger wir uns bereits mit Harri von Schwängel (Sohn) und den ganzen anderen Schreibclub-Fernbeziehungen eingehandelt haben!

 

Mischanig: Du hast Recht. Dann werde ich die Suche eben auf Kufstein beschränken und alle anderen Bewerber aussieben (Er wühlt sich durch die Dokumente). Hier: Ein aufstrebender Kufsteiner Dramatiker und Romanautor, Jahrgang 1985.

 

Kraftwerk (interessiert): Wie heißt er?

 

Mischanig: Klaus Reitberger.

 

Kraftwerk: Um Gottes Willen, nein! (wendet sich entsetzt ab)

 

Mischanig: Na gut, wie wär’s mit ihr?

 

Kraftwerk: Du beliebst zu scherzen.

 

Mischanig: Und sie?

 

Kraftwerk: Ein gewisses Grundniveau muss gewahrt bleiben.

 

Mischanig: Der hier?

 

Kraftwerk: Also bitte, wir wollen doch sachlich bleiben.

 

Mischanig: Und er?

 

Kraftwerk: Wenn mir nach Reihern ist, dann stecke ich mir den Finger in den Hals! (Erklärend): Das bedeutet nein.

 

Mischanig (blickt ratlos auf den Papierhaufen): Dann bleiben nicht mehr viele übrig. Es sei denn … (überlegt kurz, dann hellt sich seine Miene auf): Hast du heute schon die Post geholt?

 

Kraftwerk: Nein. Und ich gedenke auch nicht, jetzt damit anzufangen. Solange unsere Ablöse nicht feststeht, mache ich nur noch Dienst nach Vorschrift. Aber falls du gehen willst, dann kannst du auch gleich den Müll hinaustragen.

 

Mischanig (murmelt etwas Unverständliches, aber zweifelsohne Obszönes in seinen Gelehrtenbart. Dann entfernt er sich leise schimpfend, um nach einer Weile mit einem ganzen Packen an Postkarten und Briefen sowie einem Päckchen wiederzukommen).

 

Kraftwerk: Und? Ist was Brauchbares dabei?

 

Mischanig (öffnet einige Kuverts und überfliegt den Inhalt): Nur das Übliche. Fanpost, ein paar Heiratsanträge und die Bettelbriefe einiger Mäzene, die für den Club spenden wollen.

 

Kraftwerk: Also wirklich, diese Sponsoren werden langsam lästig. (Wieder füttert er den Reißwolf). Bleibt nur noch dieses Päckchen hier. Was da wohl drin sein mag? (Reißt Mischanig das Paket aus der Hand und beginnt ungeduldig, die Verpackung herunterzufetzen. Zum Vorschein kommen eine dicke grüne Bewerbungsmappe und, in Cellophan gehüllt, ein großes Stück Kuchen).

 

Mischanig (empört): Da glaubt wohl einer, dass wir bestechlich sind! (Beginnt, den Kuchen in sich hineinzustopfen).

 

Kraftwerk (mit vollem Mund): Wie kommt er bloß auf diese Idee?

 

Mischanig: Eine Frechheit. Aber Kuchenbacken kann er. (Wischt sich das Schlagobers von den Lippen). Ich finde, wir sollten ihm eine faire Chance geben.

 

Kraftwerk: Wie heißt der Mann?

 

Mischanig: Mal sehen (blättert in den Unterlagen): Ah, hier: Osman Gülselam, geboren 1939 in Trabzon an der türkischen Schwarzmeerküste, lebt seit 1966 in Kufstein. Gemüsehändler im Ruhestand, seit 1998 Witwer. Zwei Kinder, fünf Enkel und ---

 

Kraftwerk: Schluss mit der Ahnengalerie. Ist denn kein Foto dabei?

 

Mischanig reicht ihm ein leicht verblasstes Passbild. Es zeigt einen gesetzten Herrn mit dicker Brille, ausladendem grauem Schnurrbart und einer nicht minder grauen Strickmütze.

Kraftwerk: Sieht sympathisch aus. Damit wäre die erste Hürde zur Mitgliedschaft genommen. Was weiß man sonst noch über ihn?

 

Mischanig (studiert eines der beigelegten Blätter). Hm, der Lebenslauf ist ziemlich seltsam formuliert. Er schreibt da irgendwas von einem „dreifachen P“, das sein Leben prägt.

 

Kraftwerk: Hä?

 

Mischanig: Nun, so wie ich das verstehe, ist der Mann nicht nur Pensionist und Poet, sondern auch Pazifist. Wobei gerade Letzteres in seiner Verwandtschaft gar nicht gut anzukommen scheint. Werden wohl militante Nationalisten sein. (Liest vor): Statt Vater Kemal zu huldigen, huldige ich Mutter Dichtkunst. Statt Kurden zu schlagen, schlage ich Schlagrahm.

 

Kraftwerk: Das steht in seinem Lebenslauf?

 

Mischanig: Da steht noch mehr. Hör dir das an: Ich verehre flaumiges Backwerk und feinsinnige Musik, Marmorkuchen und Mozart, Mendelssohn und Malakoff, Schubert und Schwarzwälder Kirsch. Ich schmecke mit den Ohren und höre mit dem Gaumen.

 

Kraftwerk: Das wird seinen lieben Verwandten auch nicht viel besser gefallen.

 

Mischanig: Da hast du wohl Recht. Wenn ich Osmans mysteriöse Ausführungen richtig deute, dann gilt seine Leidenschaft für das Kuchenbacken als schwerer Verstoß gegen die Mannes- und Familienehre. Besonders sein Sohn, offensichtlich ein Reaktionär vom neuen alten Schlag, scheint sich sehr für ihn zu schämen. Hier heißt es: Wann immer ich Blut und Boden gegen Zucker und Mehl eintauschen will, schickt er mich bis ans andere Ende der Stadt.

 

Kraftwerk: Verstoßen und vertrieben – klingt nach besten Voraussetzungen für einen Poeten!

 

Mischanig: Verstoßen ist ein gutes Stichwort: Nach allem, was der arme Osman hier andeutet, dürfte auch seine Tochter mit ihm gebrochen haben: Sie scheint zwar eine emanzipierte Frau und eine erfolgreiche Rechtsanwältin zu sein, aber leider auch ein kalter Verstandes- und Erfolgsmensch, der in den Interessen des Vaters keinen materiellen Nutzen sieht. Oder wie würdest du diese Zeilen hier deuten? (Trägt vor): Mein Kuchen ist brotlose Kunst, meine Rezepte rechnen sich nicht, mein Beethoven komponiert keine Banknoten, meine Gedichte zahlen keine Miete, mein Leben ist teuer – zu teuer für euch alle.

 

Kraftwerk: Ich muss schon sagen, eine merkwürdige Bewerbung.

 

Mischanig: Es wird noch rätselhafter. Herr Gülselam scheint noch eine weitere Leidenschaft zu haben – Lokalgeschichte. Besonders mit der zweiten Türkenbelagerung am Thierberg bei Kufstein im Jahre 1683 hat er sich intensiv auseinandergesetzt.

 

Kraftwerk (verblüfft): Was für ein Unsinn … die Türken haben niemals den Thierberg belagert!

 

Mischanig: Bist du sicher? Herr Osman schreibt hier, dass er auf einem Spaziergang durch Kufstein eine Reihe von, ich zitiere, säuberlich laminierten, mit kraftvollen Kabelbindern fixierten Texten an Parkbänken und Bushaltestellen entdeckt habe, in denen die blutige Geschichte der Thierberg-Schlacht ausführlich und unter Angabe zahlreicher Quellen geschildert werde.

Kraftwerk (erbleichend): Operation Clio!

 

Mischanig (schlägt sich mit der flachen Hand gegen die Stirn): Verdammt, du hast recht! Den Text über die Türkenbelagerung habe ich ja sogar selbst geschrieben. Wie konnte ich das bloß vergessen?

 

Kraftwerk (mit glänzenden Augen): Die Geschichte, nein unsere Geschichte nimmt ihre Lauf! Dichtung und Wahrheit, Realität und Fiktion verschwimmen zu einer neuen, höheren Form der Erkenntnis!

 

Mischanig (peinlich berührt): Sieht fast so aus. Unser Osman schreibt, dass er von der berührenden Schilderung des Mordens und Metzelns am Fuße des Thierbergs derart ergriffen war und sich in seiner friedliebenden Grundhaltung in einem solchen Ausmaß bestätigt fühlte, dass er dem Geschehen einen ganzen Gedichtband gewidmet hat. 1200 Seiten in freier Rhythmik. Oh Mann, oh Mann … (schüttelt den Kopf).

 

Kraftwerk (grinsend): Ja mein Lieber, da hast du eine ordentliche Lawine losgetreten!

 

Mischanig (stockend): Auszüge davon hat er seiner Bewerbung beigelegt, als Textprobe.

 

Kraftwerk: Dann mal her damit. Mal sehen, was der Junge draufhat.

 

Mischanig (unsicher): Meinst du wirklich, wir sollten …? Schließlich hat der arme Mann sein ganzes Herzblut … Und dabei ist das alles nur ein …

 

Kraftwerk: Ach was, nur keine Skrupel. Wer Texte sät, wird Bücher ernten. Also los, jetzt wird gelesen! (Er zieht einige zusammengeheftete Seiten aus der Bewerbungsmappe hervor): Das hier müsste es sein. (Beginnt stumm zu lesen). Oder doch nicht? (Liest lautlos weiter). Hm, hm. Hä? (Fängt noch einmal von vorne an, nur um den Text nach ein paar Zeilen ratlos sinken zu lassen).

 

Mischanig (ungeduldig): Was ist los?

 

Kraftwerk: Das ergibt keinen Sinn.

 

Mischanig: Was meinst du?

 

Kraftwerk: Das Gedicht. Es ergibt überhaupt keinen Sinn.

 

Mischanig: Lass mich mal! (Zupft ihm das Blatt aus der Hand und beginnt laut vorzulesen): Pferdemähnen. 30.000. 30.000 Pferdemähnen! Hinein in den Inn, in den Inn, in den Inn. Donau, so rot, so rot, so rot, Donau, so tot, so tot, so tot. Weiter ins Schwarze, ins Schwarze getroffen, gemordet, geschlachtet, erschlagen, ersoffen. Hinein in die Stadt, in die Stadt, in die Stadt, wo der Ochse im Schlund seine Zwillinge hat. Die Wölfin des Ostens, sie sitzt dort am Meer …

 

Kraftwerk: Schluss damit!

 

Mischanig: Warum denn?

 

Kraftwerk: Das hält man doch im Kopf nicht aus. Und in den Ohren schon gar nicht.

Mischanig: Inwiefern?

 

Kraftwerk: Das ist doch völlig wirres Zeug.

 

Mischanig: Nun, ja es scheint durchaus ein wenig assoziativ---

 

Kraftwerk (verächtlich): Assoziativ! Da fehlt doch jeglicher Zusammenhang.

 

Mischanig: Gewiss, etwas kryptisch ist es …

 

Kraftwerk: Kryptisch! Wo soll hier bitte der Bezug zur Thierbergschlacht sein?

 

Mischanig: Nun, man könnte diese Lyrik wirklich als hermetisch …

 

Kraftwerk: Hermetisch! Da passt doch kein Satz zum nächsten.

 

Mischanig: Das Ganze ist mit Sicherheit etwas abstrakt, aber …

 

Kraftwerk: Abstrakt!

 

Mischanig: Aber …

 

Kraftwerk: Aber was?

 

Mischanig: Aber ich finde wir sollten ihn aufnehmen.

 

Kraftwerk (verwirrt): Was? Wen? Wo?

 

Mischanig (geduldig): Ich finde, wir sollten Osman Gülselam in den Schreibclub aufnehmen.

 

Kraftwerk: Das ist doch bitte nicht dein Ernst!

 

Mischanig: Aber sicher doch. Ich war schon lange der Meinung, dass wir jemanden mit Migrationshintergrund brauchen. Allein schon um die eigene Provinzialität zu überwinden und die internationalen Ambitionen des Schreibclubs zu unterstreichen.

 

Kraftwerk: Das ist doch alles Schwachsinn. Wir sind doch längst schon polyglott: Prinzessin Shajahani ist bekanntermaßen eine waschechte Inderin, ich bin gebürtiger Deutscher, Kinaski ist Russe …

 

Mischanig: Kinaski ein Russe? Nie im Leben! Ich habe seine Biographie eigenhändig verfasst. Er kommt aus Rettenschöss.

 

Kraftwerk: Na gut, mag sein. Aber dürfte ich dich vielleicht daran erinnern, lieber Doma, dass du selbst Außerirdischer bist?

 

Mischanig (verlegen, das Thema bereitet ihm sichtliches Unbehagen): Meine Vorgeschichte tut hier nichts zur Sache.

 

Kraftwerk (triumphierend): Eben! Wir waren uns doch immer einig, dass die kosmische, ethnische oder soziale Herkunft im Schreibclub keine Rolle spielen sollen. Das steht sogar in unserem Gründungsmanifest, auf das du sonst bei jeder Gelegenheit pochst. (Er klopft gegen einen hinter Glas gerahmten Text an der Wand). Ebensowenig wie eine bestimmte Herkunft, ob Russland oder Rettenschöss, ein Ausschlussgrund sein kann, darf sie andererseits als Ausrede dafür herhalten, jemanden aufzunehmen, der des Clubs nicht würdig ist. Das einzige Kriterium ist und bleibt, ob jemand schreiben kann. Und dieser Mann kann - nicht - schreiben.

 

Mischanig: Ich gebe zu, seine Texte sind etwas sprunghaft …

 

Kraftwerk: Sprunghaft? Ich nenne sie völlig inkohärent. Und außerdem stilistisch total unausgegoren und inkompatibel. Hier (er zieht wieder die Seiten mit den Textbeispielen hervor): Auf Seite sieben seines so genannten Gedichtbandes heißt es, ich zitiere: Sophias Söhne spucken Blut. Den Enkeln schmeckt mein Kuchen gut. Und so geht das 1200 Seiten lang. Du willst doch nicht sagen, dass all das irgendwie zusammenpasst.

 

Mischanig: Aber die einzelnen Elemente finde ich großartig. Unser neues Schreibclub-Mitglied ist eben ein Mann, der nicht mehr braucht als das Satzformat, vielleicht auch nur das einzelne Wort, um seine Aussagen zu treffen.

 

Kraftwerk: Ich wiederhole mich gern: Ein Mann, der nicht zusammenhängend schreiben kann, hat im Schreibclub nichts verloren. Und das gilt auch für einen Osmann. Denk nur an unsere Fortsetzungsgeschichten. Er wird sie ruinieren! Er wird sie unlesbar machen! Mit einem wie ihm wäre unser gemeinsames Andreas-Hofer-Stück nie so schnell fertig geworden!

 

Doma (angriffslustig): Kann es sein, dass er vielleicht gar nicht so unzusammenhängend schreibt? Kann es vielleicht sein, dass du diese Zusammenhänge einfach nicht verstehst? Vielleicht finden diese Zusammenhänge ja auf einer höheren logischen Ebene statt, zu der du, lieber Kieni … äh, ich meine Klippo, keinen Zugang hast?

 

Kraftwerk (sarkastisch): Das kann natürlich sein. Ja, vielleicht bin ich wirklich zu dumm für diese Texte. Aber was soll ich dagegen machen? Ich hab eben nur ein ganz normales Gehirn und nicht so eine Hightech-Birne wie gewisse andere „Menschen“ (verbiegt seine Finger zu ironischen Gänsefüßchen). Wie groß ist noch mal deine Gehirnkapazität – fünfzig mal so groß wie bei uns Humanoiden? Oder hundertmal?

 

Mischanig (peinlich berührt, die Materie ist ihm sichtlich unangenehm): Darüber möchte ich wirklich nicht sprechen. Außerdem geht es hier nicht um mich, sondern um die Frage, ob wir Osman Gülselam in den Schreibclub aufnehmen sollen oder nicht.

 

Kraftwerk: Genau. Oder nicht!

 

Mischanig: Oder doch!

 

Kraftwerk: Oder …

 

Mischanig: Oder was?

 

Kraftwerk: Oder wir machen es ganz anders.

 

Mischanig: Oder .., äh, ich meine: Und … Und wie?

 

Kraftwerk: Ganz einfach. Wir lassen die Präsidentin entscheiden!

 

Szene 2:


Der Gläserne Palast der Präsidentin im Reichenviertel von Kufstein. Ein riesiger Thronsaal mit schweren Brokatvorhängen, blasphemischen Kerzenständern und obszönen Wasserspeiern aus Marmor. Aus goldenen Räucherschalen erhebt sich der betörende Duft von Weihrauch und Amber. Auf einem verschwenderisch verzierten Liegethron mit Bezügen aus rotem Samt räkelt sich die Präsidentin des Schreibclubs. Sie trägt einen türkisen Wickelrock, der nur von einer bernsteinfarbenen Brosche zusammengehalten wird. Auf dem Haupt der Präsidentin sitzt eine kleine Krone aus mexikanischem Raubgold, besetzt mit kongolesischen Blutdiamanten. Zwei verboten junge Mohren im engen Lendenschurz fächeln ihr mit Straußenfedern Luft zu, während die Präsidentin Wein aus einem silbernen Becher trinkt. Drei sinnliche Gespielinnen bestreuen sie mit Rosenblättern und füttern sie mit Weintrauben, die sie zwischen ihren vollen Lippen tragen und sanft in den Mund der Präsidentin küssen. Klippo Kraftwerk und Doma Mischanig betreten auf Zehenspitzen den Saal, eskortiert von zwei muskelbepackten Lakaien. Auf der untersten Stufe der breiten, mit einem blutroten Teppich ausgeschlagenen Treppe, die zum Herrscherinnenthron hinaufführt, knien sie ehrfurchtsvoll nieder, den Blick keusch zu Boden gesenkt.

 

Klippo Kraftwerk (räuspert sich): Ähem …

 

Die Präsidentin (mit donnernder Stimme): Nun, womit belästigt Ihr uns? Ihr seht doch, dass wie unsere kostbare Zeit dazu benötigen, die Mitgliedsbeiträge des Schreibclubs zu verwalten und gewinnbringend anzulegen. Oh, vielen Dank! (Sie tupft sich mit einem Fuchspelz, den ihr ein Büttel gereicht hat, den Mund).

 

Doma Mischanig (mit zittriger Stimme): Oh … oh verehrungswürdige Präsidentin, o Mater Poetica Sanctissima, o Große Vorsitzende des Kufsteiner Schreibclubs, Eure Spektabilität, liebe Chefin! Es handelt sich nur um eine klitzekleine Kleinigkeit.

 

Die Präsidentin (kühl): Nun?

 

Kraftwerk (ohne den Blick zu heben): Wir … Wir erbitten untertänigst Euren weisen Ratschluss in einer äußerst delikaten Causa.

 

Die Präsidentin (ungnädig): Na mal sehen. Was habt ihr denn diesmal wieder verbockt?

 

Kraftwerk: Wenn Eure Majestät erlauben, nichts. Vielmehr dreht es sich um den Fall eines angehenden Poeten, der um Aufnahme in unseren literarischen Zirkel ersucht.

 

Die Präsidentin: Und wer ist dieser Knabe?

 

Mischanig: Erlauben, es handelt sich um Osman Gülselam, einen betagten Sarazenen, der …

 

Die Präsidentin (seufzend): Ein alter Orientale – ausgerechnet!

 

Kraftwerk: Unglücklicherweise herrscht Uneinigkeit über die schriftstellerischen Fähigkeiten des Genannten. Dürfen wir daher, o Präsidentin, auf Euer salomonisches Urteil hoffen?

 

Die Präsidentin (verächtlich): Bleibt uns mit Salomon vom Leib! Er war ein hässlicher alter Hurenbock, der schiache Kurt unter den Israeliten. Aber wenn ihr schon mal hier seid, dann hört zu: Unterzieht den alten Muselmanen doch einfach einer kleinen Aufnahmsprüfung. Am besten macht ihr Folgendes … (senkt die Stimme zu einem Flüstern)

 

Szene 3:


Die Wildbichler Brücke am Stadtrand von Kufstein. Autos und Lastwagen wälzen sich in dichten Kolonnen über das mächtige Bauwerk. Auf der Brücke stehen auch Klippo Kraftwerk und Doma Mischanig, mit dem Rücken zur Fahrbahn, tief über das Geländer gebeugt. Zwischen ihnen lehnt eine lange, eigentümlich geformte Stange. Während ihnen der eisige Wind durch die Haare pfeift, fixieren die beiden angestrengt einen Punkt in der Ferne.

 

Doma Mischanig (blickt nervös auf die Uhr): Gleich halb vier. Glaubst du, dass er kommen wird?

 

Klippo Kraftwerk (ohne den Blick vom Ziel abzuwenden): Keine Ahnung. Aber wenn er wirklich in den Schreibclub möchte, dann wird er kommen.

 

Mischanig: Findest du das eigentlich gerecht?

 

Kraftwerk: Was?

 

Mischanig: Na dass er sich einer Prüfung unterziehen muss, während wir einfach so aufgenommen wurden.

 

Kraftwerk: Das ist etwas völlig anderes. Wir wurden nicht aufgenommen, wir haben den Club gegründet. Und wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Sogar in einem Schreibclub.

 

Mischanig: Jaja, aber nur mal angenommen, es hätte damals schon eine solche Prüfung gegeben. Glaubst du, wir hätten bestanden?

 

Kraftwerk: Mit Sicherheit. (Er überlegt kurz). Naja, ganz so einfach ist die Sache auch wieder nicht …

 

Mischanig: Eben.

 

(Sie verfallen in ein lastendes, lang anhaltendes Schweigen, das plötzlich von einem leisen Aufschrei Kraftwerks unterbrochen wird).

 

Kraftwerk: Da! (Aufgeregt deutet er nach unten).

 

Mischanig (genervt): Was ist? Du weißt, dass ich ohne meine Brille …

 

Kraftwerk: Da kommt wer!

 

Mischanig (kneift krampfhaft die Augen zusammen): Ja, jetzt sehe ich ihn auch!

 

In der Bahnunterführung, die vom Stadtzentrum in Richtung Wildbichler Brücke führt, ist ein kleiner Punkt aufgetaucht, der langsam näher kommt und immer größer wird. Ein alter Mann! Am Fuße der mächtigen Brücke bleibt er stehen und schaut erwartungsvoll zu Mischanig und Kraftwerk hinauf.

 

Kraftwerk (zieht ein zerknittertes Foto aus der Tasche und wirft einen prüfenden Blick auf Mann zu seinen Füßen): Er ist es wirklich!

 

Mischanig: Dann nichts wie los! (Er nimmt die lange, biegsame Stange zur Hand. An der Stange hängt eine feine Schnur mit einem kräftigen Haken am Ende. Am Haken wiederum baumelt eine grüne Einkaufstasche. Mischanig, zu Kraftwerk:) Schnell, schau noch einmal nach, ob wir nichts vergessen haben!

 

Kraftwerk (stöhnend): Wie oft denn noch? Aber wenn du unbedingt meinst … (Er öffnet die Einkaufstasche, ohne sie vom Haken zu lösen und äugt ins Innere): Alles da. Du kannst sie auswerfen!

 

Mischanig: Na denn, Petri Heil! (Er schiebt die Angelrute vorsichtig über das Geländer. Dann lässt er die Angelschnur mittels einer Kurbel hinab in die Tiefe, langsam und ruckartig, bis die Einkaufstasche direkt über dem Kopf von Osman Gülselam schwebt. Mit einigem Geschick löst der alte Mann die Tasche vom Haken. Er entnimmt ihr ein Schreibbrett, auf dem einige Blätter Papier befestigt sind, einen Kugelschreiber und eine altmodische Stoppuhr. Dann blickt er ein weiteres Mal zu Kraftwerk und Mischanig auf.

 

Kraftwerk (die Hände zu einem Trichter formend): Auf los geht’s los! (Der alte Mann zuckt mit den Schultern und deutet an, dass er nichts verstanden habe. Erst als Kraftwerk ihm ein Handzeichen gibt, scheint der Mann zu begreifen. Er setzt die Stoppuhr in Gang und hängt sie sich wie ein Leichtathletiktrainer um den Hals. Dann beginnt er aufmerksam die Wörter zu studieren, die auf dem obersten Blatt Papier stehen. Es vergehen einige Minuten, während derer sich der Alte den Kopf kratzt, sein stoppelbärtiges Kinn reibt, seinen Schnurrbart zwirbelt und andere untrügliche Signale heftigen Nachdenkens aussendet. Schließlich nimmt er zögernd den Kugelschreiber zur Hand und fängt damit an, im Stehen zu schreiben.

 

Mischanig (hat die Angel wieder eingeholt und verfolgt nun gemeinsam mit Kraftwerk das Geschehen): Glaubst, wir haben es ihm zu schwierig gemacht?

 

Kraftwerk: Ach wo. Mit Impulswörtern eine kurze Geschichte zu schreiben, gehört doch zu den Grundfertigkeiten eines jeden Schreibclubmitglieds. Das sind die absoluten Basics.

 

Mischanig: Aber mussten es wirklich so schwierige Impulswörter sein? Darben, glosen, Schnäblein, Kläffer, Spitzbube, Morgenschwert, Nasenflöte, Lugibar, Kufa-Mann, Schnake, Zuber, 3-Groschen-Heft, kokaindünn, zotig und erhaben?

 

Kraftwerk (lächelnd): Zugegeben, eine echte Herausforderung. Aber wenn der Mann wirklich so gut, ist wie du sagst …

 

Mischanig: Mal schaun …

 

(Beide schauen über das Geländer zu Osman Gülselam hinunter. Nachdem er anfangs noch einen unentschlossenen Eindruck gemacht und den Kugelschreiber immer wieder zurückgezogen hat, schreibt er mittlerweile sehr zügig. Rasch hat er das erste Blatt gefüllt. Er tauscht es gegen ein leeres aus und schiebt es unter die anderen Blätter. Bald schon stehen dicke Schweißperlen auf der Stirn des Alten. Immer schneller und schneller saust der Arm mit dem Kugelschreiber über die Zeilen. Eine Seite nach der anderen wandert vom oberen Ende des Stoßes nach unten. Erst als die Stoppuhr um seinem Hals zu piepsen beginnt, setzt der alte Mann erschöpft den Kugelschreiber ab. Sein Gesicht ist gerötet, sein Schnurrbart tropft. Er scheint einige Sekunden zu brauchen, um in die außerliterarische Realität zurückzukehren. Dann hebt er den Kopf und gibt Kraftwerk und Mischanig ein Handzeichen – Daumen nach oben.

Kraftwerk (missbilligend): Na, na, na, Freundchen, darüber werden immer noch wir entscheiden. Nach einem Thumbs-up des Schreibclubs haben sich schon viele die Finger abgeschleckt – die meisten vergeblich. (Zu Mischanig): Na, los, ziehen wir den Fisch an Land!

 

Mischanig wirft die Angel aus und lässt sie zum alten Mann hinunter. Nachdem dieser wieder alle Utensilien in der Einkaufstasche verstaut und die Tasche am Haken befestigt hat, holt Mischanig vorsichtig die Leine ein.

 

Kraftwerk: Dann wollen wir den Fang mal begutachten. Er zieht die Einkaufstasche vom Haken und kramt die beschriebenen Blätter hervor.

 

Mischanig; He, lass mich auch mitlesen! (Er drängt sich neben Kraftwerk und greift nach den Blättern.)

 

Kraftwerk: Ich bin zuerst dran!

Es kommt zu einem kleinen Gerangel, in dessen Verlauf die Blätter mehrfach den Besitzer wechseln, bis am Ende jeder von beiden das Konvolut mit einer Hand festhält.

 

Kraftwerk: Du willst wohl alles in Stücke reißen! (Beginnt zu lesen und zerrt die Blätter dabei ein wenig in die eigene Richtung).

 

Mischanig: Nein, wie kindisch. (Beginnt ebenfalls zu lesen, nicht ohne die Blätter dabei wieder ein Stück in die Gegenrichtung zu ziehen).

 

Kraftwerk (lesend und ziehend): Ts, ts, so eine Sauklaue!

 

Mischanig (lesend und zerrend): Könnte fast von dir sein!

 

Plötzlich verstummen beide. Das Geziehe und Gezerre endet abrupt. Beide haben auf einmal nur noch Augen für den Text. Augen, die immer größer werden, je länger sie über die Zeilen wandern. Eine geradezu unnatürliche Stille legt sich über die Wildbichler Brücke. Nicht einmal der Lärm der nahen Autobahn ist noch zu hören. Es ist, als ob die Welt den Atem anhält. Das einzige Geräusch, das überhaupt noch zu existieren scheint, sind Ausrufe des Erstaunens, ja des Entzückens. Sie kommen aus dem Mund von Mischanig und Kraftwerk – zuerst noch vereinzelt und leise, dann immer lauter und häufiger. Schneller und schneller blättern die beiden um, von Seite zu Seite, mit roboterhaft synchronisierten Bewegungen. Aus vorsichtiger Zustimmung wird nach und nach helle Begeisterung – und am Ende schiere Euphorie.

 

Kraftwerk: Eine neue Form der Poesie!

 

Mischanig: Eine neue Form der Sprache!

 

Kraftwerk (laut): Ein Paradigmenwechsel!

 

Mischanig (noch lauter): Ein Wunder!!

 

(Sie fallen sich in die Arme und beginnen, Hand in Hand über die Brücke zu tanzen, dankbar, ausgelassen, schließlich völlig enthemmt. Dicke Freudentränen kullern über ihre Wangen.)

 

Kraftwerk (ergriffen): Wer das gelesen hat, braucht nie mehr etwas anderes zu lesen.

 

Mischanig (bewegt): Dies ist der Anfang aller Literatur – und zugleich ihr Ende.

 

Kraftwerk (schluchzend): Komm, lass es uns gemeinsam vorlesen.

 

Mischanig (um Fassung ringend): Ja, lass uns diese göttlichen Worte mit der ganzen Welt teilen!

 

Wie zwei Herolde des Königs, die der versammelten Menge eine unvorstellbare Neuigkeit zu verkünden haben, halten die beiden die losen Blätter vor sich, Kraftwerk mit der rechten, Mischanig mit der linken Hand. Beide straffen ihre Körper, beide räuspern sich bedeutungsvoll, beide setzen endlich zum gemeinsamen Vortrag an. Da fegt ein plötzlicher Windstoß über die Brücke und entreißt ihnen fauchend die Blätter. Verzweifelt versuchen die beiden, nach den Ausreißern zu schnappen und sie wieder einzufangen. Vergeblich – ein Blatt nach dem anderen flattert davon, über Straßen und Parkplätze, über Fabriken und Eisenbahnschienen hinweg, bis hinunter zum Inn. Dort versinken sie langsam, aber unaufhaltsam in den mächtigen braunen Fluten.

 

Kraftwerk: Du Trottel! Du Wahnsinniger! Was hast du nur getan?

 

Mischanig: Was, du wagst es? Das war alles nur deine Schuld! Na warte, du Sau, komm her, du …

 

(Sie fallen übereinander her und sind binnen Sekunden in eine wüste Schlägerei verwechselt. Es wird geschlagen und getreten, gekratzt und gezottelt, gebissen und gespuckt, gebrüllt und geblutet, bis beide sich zu einem wütenden, widerlich aussehenden Knäuel verkeilt haben. Plötzlich, als der schmutzige Kampf gerade seinen Höhe- bzw. Tiefpunkt erreicht, erhebt sich über das Grunzen und Kreischen eine sanfte, wohltönende Stimme.) Aber, aber meine Herren! Wer wird denn gleich streiten?

 

Mit ruhigen, aber kraftvollen Bewegungen trennt Osman Gülselam die beiden Streithähne. Die verzerrte Wut auf den verquollenen, mit Blut, Schweiß und Speichel verschmierten Gesichtern von Mischanig und Kraftwerk weicht einem Ausdruck tiefer Scham, dem Kampfgeschrei folgt betretenes Schweigen.

 

Osman Gülselam (mit gütigem Lächeln): Nun sagen Sie mir, meine Herren, war es meine Geschichte denn wirklich wert, dass man sich derart heftig um sie prügeln muss?

 

Kraftwerk (düster): Natürlich war sie es wert. Sie war noch mehr wert, viel, viel mehr. (Betastet vorsichtig sein blaues Auge). Ich glaube, ich hätte sogar für sie getötet.

 

Mischanig (Blut und Schleim spuckend): Ich auch!

 

Herr Osman: Ich bitte Sie, meine Herren. Eine Geschichte – und sei sie noch so gelungen – kann doch niemals so viel wert sein wie ein Menschenleben.

 

Kraftwerk: Diese Geschichte schon!

 

Mischanig: Es war die beste Geschichte, die jemals geschrieben wurde!

 

Kraftwerk: Aber das wissen Sie ja selbst!

 

Mischanig (panisch): Sie müssen sie unbedingt noch einmal schreiben, jetzt, gleich, sofort! (Er beginnt, hektisch in der Einkaufstausche zu wühlen). Hier muss doch noch irgendwo ein leeres Blatt sein.

 

Kraftwerk (drückt Herrn Osman fahrig den Kugelschreiber in die Hand): Ja, los, schreiben Sie, um Gottes willen, schnell, schnell, bevor sie etwas vergessen!

 

Herr Osman (ruhig): Es tut mit leid, meine Herren. Ich habe bereits alles vergessen.

 

Kraftwerk und Mischanig (unisono): Waaas?

 

Herr Osman (tiefsinnig): Wahres Schreiben ist wie ein Rausch – ein einmaliger Glücksmoment, ein Augenblick, der nie mehr wiederkehrt, ein einzigartiger Gedanke, den man nie wieder zu fassen kriegt, sobald er einem entschlüpft ist. Das gilt übrigens auch für wahres Lesen. Oder kann sich einer von Ihnen noch daran erinnern, wie sich mein Text wirklich angefühlt hat, während Sie ihn gelesen haben?

 

Mischanig (leise): Jetzt, wo Sie es sagen: Nein.

 

Herr Osman (lächelt weise): Eben. Wahres Glück ist unwiederbringlich. Jede Erinnerung daran ist nur noch ein Abklatsch.

 

Kraftwerk: Soll das heißen, Ihr Meisterwerk ist dahin? Ein für alle mal verloren? (Seine Stimme versagt).

 

Herr Osman: Genauso ist es. Diese Geschichte hat nur für den Moment gelebt (Sieht die niedergeschlagenen Gesichter von Mischanig und Kraftwerk). Aber trösten Sie sich, meine Herren: Die wertvollsten Dinge sind immer flüchtig. (Er schlägt den beiden aufmunternd auf die Schulter). Und jetzt vergessen sie meine Geschichte – sie ist für immer im Inn versunken. So wie einst die Mähnen der 30.000 türkischen Pferde, die bei der Schlacht am Thierberg ihr Leben lassen mussten.

 

Mischanig (kleinlaut): Äh, darüber sollten wir reden …

 

 

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