von Astra Korngold
Ich werde mich kurz fassen, denn ich schreibe diese Zeilen mit meinem Blut. Der kostbare Lebenssaft wird knapp, doch ich werde mir auch noch das letzte Tröpfchen aus den Adern pressen, sofern es der höheren Erkenntnis dienlich ist. So nah war ich dem Elixier aller Elixiere, und dieses Wissen darf nicht mit mir vergehen. Mir ist großes Unrecht widerfahren, und nun, da die letzte Stunde naht, lege ich Zeugnis über den wahren Verlauf meiner Reise ab. Dies schulde ich der alchemistischen Zunft, und der geneigte Leser möge mir hierbei den offensichtlichen Mangel an Klarheit nachsehen. Hunger und Dunkelhaft trüben meine Sinne, die Ratten schnuppern an meinen pochenden Wunden, und der Pestilenzgestank in diesem Kerkerloch verätzt mir die Kehle. In meinen Eingeweiden wütet der Schmerz. Und doch empfinde ich keine Reue.
Vor meiner Abreise hatte ich alle Vorkehrungen für den Ernstfall getroffen: Das Testament war geschrieben, meine Liegenschaften waren wohlverwaltet und Frau und Kinder mit allen wesentlichen Gütern
versorgt. Wohin ich ging und was meine Absichten waren, ließ ich niemanden wissen. Man hätte nur versucht, mich von meinem Ansinnen abzubringen.
[...]
von Astra Korngold
Die Stille lag auf den Gräbern wie eine gefrorene Wolldecke. Es roch nach Weihrauch und Frost, und der Mond versteckte sich vor Kälte bibbernd hinter einem Wolkenschleier.
Die Turmuhr schlug zwölf Mal.
Ein Zweig knickte ein. Schnee rieselte auf ein rot leuchtendes Grablicht und schmolz an dem heißen Blech. Vom Aspangbahnhof her drang das Krachen eines Böllers.
Wieder Stille.
Dann erwachten die Toten. Zuerst war da nur ein Knistern, ein Rascheln, ein allgemeines Rumoren im Untergrund. Grabkreuze bebten, Steinplatten schoben sich knirschend zur Seite, und der Moderhauch
der Gruften trug ein geschäftiges Rasseln und Klappern nach oben. Schließlich fanden knöcherne Finger den Weg ins Freie, staubige Schädel spuckten Erdklumpen auf Weihnachtsgestecke, Gerippe zogen
sich an der Grabeinfassung hoch wie am Beckenrand im Schwimmbad. Ein körperloses Flüstern schwoll zu einem Raunen an und schließlich zu einem Schrei aus Tausenden längst zu Staub zerfallenen Kehlen:
„Er kommt!“
[...]
von Astra Korngold
Ich habe die Lugibar abgefackelt. Jawohl. Angezündet habe ich sie, abbrennen lassen habe ich sie mit allem, was drin war. Mit allen, die drin waren.
Wie das klingt. So GRAUSAM.
Obwohl, wer war da schon noch drin. Eine Handvoll durchgeräucherte Altrocker, ein paar angesoffene Amtsschimmel, ein Rudel Mäzene. Und Lugi. War er da? Ja, er war da.
Schrecklich ist das. Furchtbar, werden die Leute sagen, FURCHTBAR…
Wie kann man nur. Aber ich hatte meine Gründe.
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Von Klippo Kraftwerk
Was immer diesem schändlichen Schriftstück zu Grunde liegen mag, ich kann Ihnen nur davon abraten es zu lesen. Ich heiße es kess, spitzbübisch und obszön, peinlich in Sprache und Inhalt, dazu schwerfällig und mittelmäßig im Stil, manchmal sogar überzuckert bis ins Weibische reichend. Dieser Text sollte von niemandem gelesen werden, mit Ausnahme vom Verfasser selbst, als Spiegel seiner eigenen, zutiefst schändlichen Wesensart.
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Von Paulo Belabonte
Abgesehen von gelegentlichen Mahnungen der Vorgesetzten, die seine Arbeitsberichte immer zu positiv und emotionsgeladen fanden, war William vor allem deshalb bei seinen Kollegen sehr beliebt, weil er nie klagte, wenn er länger arbeiten musste oder seine Ablöse Verspätung hatte. Richtige Freunde hatte er jedoch nicht.
Junul, der nach dem Tag seiner Geburt, der Sommersonnenwende, benannt war, machte es auch nichts aus, wenn er den stumpfen Lärm der anderen hinter sich lassen konnte, war er doch in der Einsamkeit viel empfänglicher für fremde Gedanken und Gefühle.
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Von Paulo Belabonte und Astra Korngold
Zaghaft berührte ich mit meinem linken Daumen den Sensor Null. Ein Klicken erklang. Schon mutiger aktivierte ich die Eins mit dem rechten Daumen, das Klicken wiederholte sich. Linker Zeigefinger Zwei, rechter Drei, im Wechsel Vier, Fünf, Sechs. Kurzer Blick über die Schulter, tief Luft geholt, Sieben, linker kleiner Finger Acht, rechter kleiner Finger Neun.
Ein leichtes Zittern ging durch die Tür, als sich in ihrer Mitte ein Loch bildete, das rasch größer wurde. Faustgroß, kopfgroß, schafgroß, menschengroß. Ein Schwall merkwürdiger Luft zog an mir vorbei, nicht faulig, aber auch nicht lebendig. Und plötzlich erstrahlte ein Licht, wie ich es noch nie gesehen hatte, und aus dem Nichts und von überall zugleich erklang die Stimme einer Frau: „Willkommen“
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Von Paulo Belabonte
Mit 14 war Viktor mit Pjotr aus der Nachbarschaft zum Eisangeln an den Stausee östlich vom Dorf gewandert. Der fröhliche Ausflug fand mit einem lauten Knacken und Krachen jedoch ein jähes Ende, und eh er reagieren konnte, brach Viktor durch das Eis.
Das Wasser war kalt, sauschweineverfluchtbitterkalt, es drang im Nu vor bis in sein Innerstes, wo es sein Lebensfeuer angriff. Sein Wintermantel sog sich voll und wurde beinahe untragbar schwer, seine Winterstiefel zogen ihn nach unten, seine Hose hatte ihr und damit sein Gewicht vervielfacht. Als guter Schwimmer hatte er sich zunächst zwar an die Oberfläche zurückkämpfen können, doch jedes Mal, wenn er nach dem Rand des Lochs griff, brach wieder ein Stück Eis ab, und aus seinem Schock wurde rasch Panik, bald Todesangst, als er seine Kräfte schwinden spürte.
Sich auf dem Bauch vorsichtig nach vor schiebend konnte ihn Pjotr schließlich doch noch erreichen, fassen, aus dem Wasser ziehen. Mühsam schälte er Viktor aus Teilen der triefendnassen Kleidung, bot ihm seine himmlisch trockene Jacke und Socken an und den Wodkarest. Dann half er ihm auf die Beine und kündigte mit gebrochener Stimme an, dass sie so schnell wie möglich ins Dorf zurückkehren mussten. Was sie, auch wenn sich Viktor nicht mehr daran erinnern konnte, wie, schließlich auch schafften. Trotzdem ließ die Erkältung nicht lange auf sich warten und wuchs sich rasch zu einer Lungenentzündung aus. Der Distriktsarzt musste kommen.
(...)